El cante, el baile, el toque, .... Elemente des Flamenco

 
Von Herbert Bühl

Wenn von den Elementen des Flamenco die Rede ist, werden drei als die wesentlichen genannt: Der Tanz, die Gitarre, der Gesang -- häufig in dieser Reihenfolge ihrer Bedeutung. Wer sich die faszinierende Fülle des Flamenco erschließen will, tut gut daran, sich mit diesen und weiteren Elementen, mit ihrer Geschichte und ihren inneren Zusammenhängen vertraut zu machen. Zwar ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile, doch läßt sich das Ganze besser erfassen und beschreiben, wenn man die Teile kennt. Der nachfolgende Überblick soll in erster Linie dem Einsteiger eine systematische Annäherung, doch zugleich auch dem fortgeschrittenen aficionado vergnügliche Auffrischung und Anregung sein, auf keinen Fall aber normative oder kanonische Ansprüche erheben.

El cante -- der Gesang

Das ,,öffentliche Leben'' des Flamenco begann gegen Ende des 18. Jahrhunderts, und zwar mit dem cante (andalusische Form von canto = Gesang). Zigeuner in Andalusien trugen etwas Neuartiges an die Öffentlichkeit und fanden dafür ein Publikum; es waren poetische Texte, die a cappella, d. h. ohne Instrumentalbegleitung gesungen wurden, ohne Gitarre, ohne Tanz. Das war der erste, ursprüngliche ,,cante jondo'' (= tief-inniger Gesang). Er klang möglicherweise ähnlich wie heute die cantes ,,a palo seco'', vielleicht roher, rauher, weniger ,,kultiviert'', und wurde allenfalls rhythmisch begleitet mit den Mitteln des son, d.h. durch Händeklatschen, durch Klopfen mit den Knöcheln der Hände auf Tisch oder Stuhl, durch Stampfen der Füße, durch Fingerschnipsen.

Bis in unsere Tage ist und bleibt der cante die Seele des Flamenco, auch gegen die Meinung eines ständig wachsenden, vom falschen Glanz und den Lichtern der Bühne oder von Touristen-Spektakeln geblendeten Publikums, für welches Flamenco ein Tanz oder vielleicht auch noch eine besonders flotte Art von Gitarrenmusik ist. Denn unter, hinter der offensichtlichen, vom show-business bestimmten Oberfläche des Bühnenflamenco lebt immer noch etwas Besonderes, Einzigartiges, etwas sehr Altes und dennoch Aktuelles, Lebendiges: Die Flamenco-Kultur. Diese ist auf den cante zentriert. Der cante ist für die Mitglieder dieses besonderen Kulturkreises wie ein Zeichen, an dem sich als Eingeweihte erkennen, ist die Quelle, aus der sie Authentizität schöpfen, die sie am Leben hält.

So ist es verständlich, daß im Flamenco-Milieu das Wort ,,cante'' allgemein als Synonym für Flamenco verwendet wurde und wird (und daß dem cante auch in dieser Abhandlung der erste Platz zukommt).

El baile -- der Tanz

Das Repertorium der ersten cantaores (= Flamenco-Sänger) wurde -- wenn nicht schon von Anfang an, so doch sehr bald, und wenn nicht von ihnen selbst, dann sicher von anderen Mitgliedern ihrer Gruppe -­ erweitert um Lieder fröhlichen, beschwingten, leichteren Charakters und Inhaltes, die nun neben dem cante jondo auf Festen und juergas (= mehr oder weniger spontande, informelle gesellige Zusammenkünfte) zu hören waren. Zu ihrer Begleitung verwendete man die damals üblichen Musik- und Rhythmus-Instrumente der andalusischen Folklore (wie Bandurria, Laute, Mandoline, Violine, Schellentrommel und Kastagnetten), und mit ihnen fanden auch Tänzerinnen Eingang in den Flamenco. Der Flamenco-Tanz war wesenhaft und für lange Zeit Frauen-Tanz, und die bailaora (= Flamenco-Tänzerin), ursprünglich barfuß oder nur mit dünnen, leichten, absatzlosen, pantoffelähnlichen Schuhen an den Füßen, tanzte ,,von der Taille aufwärts'', orientalisch, mit weichen, expressiven Bewegungen der Arme und Hände, um ,,ihre innere Bewegung, ihr Gefühl plastisch zum Ausdruck zu bringen''. Die beeindruckende Fußtechnik, die uns so typisch für den Flamenco-Tanz zu sein scheint, war es bis weit in unser Jahrhundert hinein nicht. Im Gegenteil, der zapateo, die Fußtechnik, kennzeichnete, wie überhaupt betont heftige, kraftvolle Körperbewegungen, den Tanz der Männner, und als später Männer Flamenco zu tanzen begannen, brachten sie diese Art zu tanzen mit ein.

Tänzerinnen wie die berühmte und als Flamenco-Interpretin äußerst umstrittene Carmen Amaya (1913-1963) übernahmen die männlichen Tanzmerkmale und insbesondere die Fußtechnik und integrierten sie in den weiblichen Tanz. So wurde im Flamenco das Männliche weiblich -- bis heute eine immer neue Herausforderung für jede Flamenco-Tänzerin!

Der Tanz, das auffälligste unter den vielfältigen Elementen des Flamenco, weckt den größten Zulauf von Flamenco-Interessenten, bekommt (fast) allenthalben den lautesten Applaus, und so erklärt sich, daß heutzutage viele Menschen fälschlicherweise Flamenco sagen, wenn sie in Wirklichkeit Flamenco-Tanz meinen.

El toque -- das Spiel der Gitarre

Auf Grund von Berichten wissen wir, daß bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Gitarre das Musikinstrument schlechthin war, wenn es darum ging, Flamenco-Gesang oder -Tanz zu begleiten. Ihre Funktion war untergeordnet, ihre Aufgabe nur, zu begleiten. Jedoch das Bedürfnis des Gitarristen, sein Können, seine interpretative und schöpferische Kraft auch losgelöst von den Bindungen an Sänger oder Sängerin, Tänzer oder Tänzerin zu zeigen, führte dazu, daß schon in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die ersten Flamenco-Gitarren-Solisten auftraten. So begann eine bis in die jüngste Zeit hinein andauernde, phantastische Entwicklung in der Technik des toque, die vor allem in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts grundlegende Neuerungen erfuhr. Unter den Namen bedeutender Gitarristen dieser Zeit verdienen es Ramón Montoya (1880-1949), Javier Molina (1868-1956), Manolo de Huelva (von dem uns kein Ton-Dokument überliefert blieb), Niño de Ricardo (1904-1972) und Sabicas (1912-1991), besonders hervorgehoben zu werden. Zwischen Flamenco-Gitarre und klassischer Gitarre entstand ein fruchtbarer Austausch.

Wenngleich die außerordentliche ästhetische Faszination unbestreitbar ist, die vom solistischen Spiel der großen lebenden Virtuosen der Flamenco-Gitarre ausgeht, so wird doch immer wieder hervorgehoben, daß der tocaor (= Flamenco-Gitarrist) seine eigentliche Herausforderung in der Begleitung des Tanzes und ­ vielleicht noch wichtiger ­ des Gesangs findet. Ohne auf Einzellheiten einzugehen, sei nur erwähnt, daß diese Gitarrenbegleitung 2 Teile umfaßt, nämlich zum einen die rhythmische und melodische Unterstützung des cantaor, zum anderen die falsetas, das sind solistische Melodielinien des Gitarristen zwischen den einzelnen Teilen des Gesangs, die diese verbinden und erweitern, wobei sie sich sich an das Leitmotiv des jeweiligen palo (= Art, Stil, Gattung des jeweiligen Flamenco-Stücks) halten müssen.

La poesía -- die Poesie

Der erste, der die Aufmerksamkeit des gebildeten Publikums auf den bemerkenswerten künstlerischen Wert der letras (= Text des Flamenco-Gesangs) lenkte, war Antonio Machado y Álvarez (1848-1892) (Vater der bedeutenden spanischen Dichter Manuel und Antonio Machado), der unter dem Pseudonym Demófilo (= Freund des Volkes) schrieb. Er veröffentlichte 1881 eine Sammlung von ,,coplas para todos los estilos del cante jondo o grande, y del cante chico o ligero'' unter dem Titel ,,Colección de Cantes Flamencos''. Der erwähnte Sohn und Dichter Manuel Machado schrieb von diesen coplas (= besondere, traditionelle volkstümliche spanische Strophenform, aber oft auch allgemeine Bezeichnung für Gedicht-Strophen), sie seien die ,,besten und berühmtesten'' unter allen, die sein Vater gesammelt habe, und sie seien ausgewählt und veröffentlicht ,,wegen ihres ästhetischen Werts und Tiefgangs der Empfindung, so daß die Verse einer soleá viele Bände eines philosophischen Werkes oder die seguiriya, diese Quintessenz eines dramatischen Poems, die ganze Vielfalt gelebter und durchlittener Leiden und Freuden zu umschließen vermögen''. Ursprünglich stammten diese gesungenen Verse von anonymen Autoren, vom ,,besten spanischen Dichter, und das ist, ohne Zweifel, das andalusische Volk''. Geschaffen, nicht um gelesen oder rezitiert, sondern um gesungen zu werden, oftmals im selben Augenblick improvisiert, in dem sie gesungen wurden; mündlich weitergegeben, von niemand schriftlich festgehalten. Später singen die cantaores auch schriftlich vorliegende Strophen, die teils eigens zum Singen als Flamenco-Texte entstanden waren, teils auch nicht, sondern sich auf Grund ihrer Form und ihres lyrisch-expressiven Temperaments dazu eignen. Mittlerweile gibt es Verse, die ,,von großen, gebildeten Dichtern, von mittelmäßigen Dichtern und auch solche, die von miserablen Dichtern'' verfaßt wurden, so daß die Texte, die heutzutage von Flamenco-Sängern gesungen werden, von sehr unterschiedlichem literarischem Wert sind.

Die Tatsache, daß außerhalb (und selbst innerhalb) Spaniens das Thema der Flamenco-Poesie nicht allzu viel Beachtung gefunden hat, läßt sich leicht erklären, da doch mindestens die folgenden drei Bedingungen erfüllt sein müßten, damit jemand diese Poesie zu schätzen wüßte:

  • Spanisch sprechen und verstehen (und das auch noch in seiner andalusischen Form!);
  • sich für Lyrik interessieren; 3. zugänglich sein für dieses besondere Erleben wie aus einer anderen Welt fern von Lautstärke und Glanz moderner Spektakel, das die volkstümliche spanisch-andalusische copla oft in sehr subtiler, flüchtiger Weise vermittelt.

Hinzu kommt, daß der immer noch zweifelhafte Ruf, den Flamenco in weiten Kreisen Spaniens weiterhin genießt (als Musik zwielichtigen, vergnügungssüchtigen Gesindels am Rand der Gesellschaft, wie einstmals Tango und Blues), zu einer generellen Ablehnung oder zumindest Nicht-Akzeptanz von allem führt, was mit Flamenco zu tun hat (es sei denn, es bringt ­ direkt oder indirekt ­ Devisen), und das trifft natürlich in erster Linie den unauffälligsten Teil. So finden eben die Flamenco-Gitarre und vor allem der Flamenco-Tanz wesentlich mehr Beachtung als der cante oder gar die letra, und das erklärt auch, warum so mancher Flamenco-Sänger dem Text, den er singt, wenig Beachtung schenkt ­ so wenig, wie er es vom Publikum erwarten kann; darunter leidet aber fühlbar die Ausdruckstiefe und Überzeugungskraft seines Gesangs.

Las palmas (el palmeo) -- das Händeklatschen

Im Gegensatz zu den beliebten palillos (= Kastagnetten), die eine Anleihe aus der spanischen Folklore und dem klassischen spanischen Tanz darstellen, ist das Händeklatschen ein authentisches Element des Flamenco, und wohl auch eines der ältesten. Gemeinsam mit anderen, mit Hand und Fuß hervorgebrachten akustischen Äußerungen (wie Fingerschnalzen, Klopfen, Füßestampfen), unterstreicht es in auffälliger Weise den Rhythmus des Gesangs. Zugleich treibt es häufig den Rhythmus vorwärts ­ oder dämpft ihn, hält ihn zurück, bereitet ihn vor. Die palmas haben somit eine wichtige Doppelfunktion, sie sind Rhythmus-Element und Element des ­weiter unten angesp rochenen­ jaleo.

Außer den beiden Grundformen der palmas claras (= helles Klatschen)und palmas sordas (= gedämpftes Klatschen) gibt es eine Vielzahl von Ausführungsvarianten, sowohl hinsichtlich Rhythmus als auch in Bezug auf den Klang. Aber es gibt wenige, die das Händeklatschen korrekt handzuhaben verstehen.

El jaleo

In erster Linie meint man mit jaleo alle Zurufe und sonstigen mit der Stimme hervorgebrachten Äußerungen, mit denen Mitglieder der Flamencogruppe ­oder auch Personen außerhalb der Gruppe, also aus dem Publikum­ während des Auftritts andere Mitglieder der Gruppe oder die Gruppe insgesamt aufzumuntern, anzufeuern oder in einen euphorisch gesteigerten Zustand zu bringen versuchen. Beispiele sind die Zurufe olé!, vamos!, arsa! und viele andere.

In seiner erweiterten Bedeutung umfaßt jaleo alle Aktivitäten und Äußerungen, die unmittelbar vor und während des Flamenco-Auftritts für die richtige Flamenco-Stimmung sorgen und die Stimmung der Künstler anheizen sollen.Typische Elemente des jaleo sind, wie erwähnt, die Zurufe und die palmas.

La percusión -- die Perkussion

Nur am Rande als Elemente erwähnt seien die mancherlei Melodie- und Begleitinstrumente, mit denen sich der moderne Flamenco versucht (z.B. Flöte oder caja/cajón), und die verschiedenen musikalischen Stilelemente (z.B. Jazz oder Rock), mit denen der Flamenco kombiniert wird. Was hier noch Flamenco ist und wo bereits etwas Anderes, Neues vorliegt, das die Stillinie des Flamenco bereits verlassen hat, darüber wird heiß diskutiert. Tatsache ist, daß der Flamenco von seinen Anfängen an sich in ständiger (manchmal auch selbstzerstörerischer) Auseinandersetzung mit den Einflüssen und Strömungen seiner Umgebung weiter- und immer wieder auch rück-entwickelt hat. So konnten z.B. die cantes de ida y vuelta (wörtlich etwa ,,Flamenco aus Weggang und Rückkehr'') entstehen, weil sich der Flamenco lateinamerikanischen Einflüssen öffnete. Und wem das Experimentieren mit neuen Musikinstrumenten ein eindeutiges Kennzeichen des neuen Flamenco zu sein scheint, dem sei beispielsweise die CD ,,5 guitarras históricas'' empfohlen, um sich zu überzeugen, wie reizvoll Flamenco mit Gitarre und Saxofon klingen konnte ­bereits vor dem Krieg und kurz danach­, heute eine eher ungewöhnliche Kombination!
 

Diese Erörterung der Elemente des Flamenco soll jedoch nicht abgeschlossen werden ohne einen Blick zu werfen auf eine andere, unter Flamenco-Kennern kontrovers diskutierte Entwicklung in der Flamenco-Praxis, die etwa seit 1970 anhält. Es handelt sich um den zunehmend perkussiven Charakter des Flamenco. Dieser hängt in besonderer Weise mit den Wünschen und Hörgewohnheiten seines Publikums zusammen.

Der/die Flamenco-Künstler/in singt, spielt, tanzt mit bzw. vor zwei Arten von Publikum bzw. Zuhörerschaft, je nach dem Rahmen, in dem er/sie auftritt.

Die natürliche Zuhörerschaft [des Flamenco] besteht aus wenigen: Sechs bis zwanzig Personen, und diese sind Kenner und begeisterte Anhänger des cante. Nur so fühlt sich der Sänger in seinem Element. Nur so kann er sich frei entfalten. [...] [Die natürliche Zuhörerschaft ist] eine freundschaftliche, brüderliche, ausgewogene Gemeinschaft, in der alles, was gesagt oder getan wird, unausweichlich und instinktiv auf ein großes Ziel hinführt: Daß nämlich aus seinem Schoß der cante hervorgebracht wird; daß ein Klima der Freundschaft,der Leidenschaft, der Intimität entsteht, alles mit exquisitem Takt und einem tiefen Respekt gegenüber dem Sänger, der wie ein Hoherpriester seiner Kunst verehrt wird. Ein solches natürliches Publikum von Kennern (auditorio natural) gestaltet das Geschehen aktiv mit, verschmilzt mit den ausführenden Künstlern zu einer praktizierenden Einheit, ähnlich wie in alten sakralen Ritualen beispielsweise Priester und Gläubige, Musiker und Tänzer zu einer Einheit verschmelzen..

Ganz anders beim Bühnen-Flamenco: Hunderte, meist weit weg von der Bühne, anonym, fremd, mehr oder weniger ahnungslos, in passiv-rezeptiver Haltung, ein Publikum, das mehrheitlich gut unterhalten zu werden wünscht, ohne sich weiter einlassen zu müssen. Selbst wenn es sich mehrheitlich um Kenner, aficionados, handeln sollte, die räumliche Trennung zwischen Bühne und Publikum läßt im allgemeinen eine Kooperation in der beschriebenen traditionellen, natürlichen Weise nicht zu, erschwert sie zumindest entscheidend.

Diesem Verlust des auditorio natural kann nun der Flamenco-Künstler, der die Bühne betritt, auf unterschiedliche Weise begegnen: Erstens kann er sich, wenn er alleine auf der Bühne steht, einfach damit abfinden, so wie andere, Nicht-Flamenco-Künstler auch. Er kann zweitens mit den anderen Künstlern seiner Gruppe vielfältige Wechselbeziehungen aufnehmen, die sich wiederum beschränken können wie beispielsweise beim Zusammenspiel eines klassischen Kammerorchesters oder weiterreichen wie beim gekonnt gemeinsamen Improvisieren z.B. auch einer guten Jazz-Gruppe, oder die schließlich irgendwo in jenes Meisterhafte, Unfaßbare hinüberreichen können, für das im Flamenco das Wort duende erfunden wurde. Hierbei spielt die Anwesenheit eines Publikums vielleicht psychologisch eine wichtige, künstlerisch-musikalisch aber nur eine sehr eingeschränkte Rolle. Schließlich gibt es eine dritte Möglichkeit: Man könnte ja bestimmte Gruppen-Mitglieder damit beauftragen, auf der Bühne, innerhalb der Gruppe, die Rolle des auditorio natural zu übernehmen. Wen aber könnte man damit beauftragen? Sänger/in, Gitarrist/in, Tänzer/in? Natürlich nicht! Dem Palmero hingegen ist diese Rolle wie auf den Leib geschrieben. So entsteht also auf der Bühne des Flamenco eine Figur mit einer neuen Aufgabe: Der Palmero (bzw. die Palmera) tritt, integriert in die Künstlergruppe und als Teil von ihr, an die Stelle der oben beschriebenen, natürlichen Zuhörerschaft, übernimmt deren Rolle und sorgt, stellvertretend für das Publikum, für das erforderliche Wechselspiel, das das Publikum selber nicht mehr zu leisten in der Lage ist.

Dieser Palmero aber erlangt nun eine besondere Machtstellung. Palmeo hat ja eine nicht zu überhörende rhytmusgebende Funktion. Ursprünglich wurde der Rhythmus von Sänger/in, Gitarrist/in oder Tänzer/in (jede/r zu seiner/ihrer Zeit) bestimmt, und die palmas ordneten sich unter, konnten höchstens unterstützen, fördern. Der neue Palmero aber hat die Macht, das Kommando an sich zu reißen, die anderen drei gefügig zu machen, das gesamten Flamenco-Geschehen seiner Diktatur des Rhythmus zu unterwerfen, umso mehr, als da auch prompt starke Freunde aufgetaucht sind, die ihn kräftig unterstützen: Die Perkussionisten, mit cajón, bongos, congas und anderen Mitteln, hauen auf die Pauke, verhelfen dem Rhythmus zur Herrschaft, unterwerfen das, was bis dahin flamenco war, ihrem mächtigen Metrum.

Begünstigt durch einen allgemeinen Trend, Musik in einen meßbaren Rahmen (wie Rhythmus und Takt) zu spannen, begünstigt sicher auch durch den weltweiten Einfluß afro-lateinamerikanischer Musik, kam die Perkussion zum Flamenco, ja, wurde auf den Thron gehoben, denn sie beansprucht im modernen Flamenco eine dominierende Stellung.

Der cordobeser Flamencologe Agustín Gómez geht bedauernd auf diese allgemeine Erscheinung im Flamenco ein: Niemals zuvor hatte das Zeitmaß für den Flamenco so viel Bedeutung wie heute. Es gab noch andere Werte, wie Melodie, Ausdruck, Spiel und Beherrschung der Stimme, Gebrauch von Verzierung, Timbre und rajo , die Vollkommenheit in der Ausführung eines Melodiebogens, die Fähigkeit, in der Fülle des gesanglichen Vortrags das gewisse Etwas zum Leuchten zu bringen, der individuelle Charakter, die schöpferische Kraft ...; die kommunikative Realität. Heute, nichts mehr davon, und obgleich all diese Werte insgeheim ­manchmal ohne es zugeben zu wollen­ immer noch Bedeutung für uns haben, sprechen wir nur noch von Takt und Rhythmus, also von dem, was man messen und zählen kann; weil wir uns angewiesen fühlen auf konkrete Maßeinheiten, um Vergleiche anzustellen in dieser Welt des Wettbewerbs, die wir uns geschaffen haben.

Lo arcáico -- das Archaische

Kein Zweifel, Flamenco trägt die Spuren vieler Kulturen, die in ihm zusammenfanden, und darauf wird zu Recht immer wieder hingewiesen. Aber sei es der ungewöhnliche, expressive statt ästhetische Gebrauch der Stimme, sei es die fremdartige Formung von Wort und Ton in Mund und Kehle des Sängers, seien es die verwendeten Tonleitern, Melodiebögen, Rhythmen, Improvisationsmittel, seien es die auffälligen Grundtechniken und merkwürdigen Akkorde der Gitarrenbegleitung oder die impulsive und zugleich immer gebremst wirkende Dynamik des Tanzes oder der herbe Zauber der Poesie, seien es die einfachen ursprünglichen Rhythmusmittel überall im Flamenco springt uns das Archaische an, das Archaische kennzeichnet ihn, ist letztlich wohl verantwortlich für die fast magische Kraft und Faszination, die von ihm ausgeht und die so viele und immer mehr Menschen anzieht.

In der Frühgeschichte unserer Kultur war Musik sehr verschieden zu dem, was wir heute darunter verstehen. Wer etwas davon erahnen möchte, der lese nach z.B. unter dem Stichwort Griechische Musik im Brockhaus. Versdichtung, Gesang, Instrumentalspiel, Tanz, heute als selbständige künstlerische Elemente getrennt, waren in der griechischen Vor-Klassik innig ineinander verwoben. Musiké bezeichnet die untrennbare Einheit aus Vers und Gesang. Sie ist nicht Tonkunst im abendländischen Sinn, sondern das erklingende Wort als Werk des Dichters, menschenbildende Kraft, keine ästhetische, sondern eine ethische Kathegorie. [Hervorhebungen vom Autor.] Dasselbe gilt ja bis heute im Flamenco uneingeschränkt für jeden cante grande. Inhalt, Versrhythmus (mit dem musikalischen Rhythmus identisch), Tonbeziehungen (=Tonleitern und Akkordfolgen) standen in deutlicher Beziehung zum unterschiedlichen Ethos der verschiedenen Gattungen der Musiké, wobei unter Ethos die günstige oder ungünstige Beeinflussung der teilnehmenden Menschen, d.h. die Wirkung auf ihre innere Haltung und Stimmung zu verstehen ist; für die Gattungen der Musiké können wir heute die palos des Flamenco setzen. Die Praxis dieser Musik war innig verbunden mit der Bewegung des Körpers, dem Tanz (Chor bedeutete ursprünglich Reigentanz, bevor der Begriff in der klassischen griechischen Tragödie seine Bedeutung wesentlich änderte). Der musikalische Rhythmus, die Musik überhaupt, war also bestimmt durch Rhythmus und Inhalt des gesprochenen Wortes, und der Kreis der Tänzer setzte den Rhythmus der Musik um in Bewegung des Körpers. Nehmen wir noch hinzu, daß die ursprüngliche Aufgabe der Musikinstrumente (Lyra und Aulos) nur die war, zu begleiten, dann zeichnen sich doch (bei aller sonstigen Verschiedenheit) mancherlei Parallelen zwischen Flamenco und jenem frühen Musik-Verständnis ab.

Signale einer längst vergangenen Zeit, in der sich die Grundlagen unserer Kultur zu bilden begannen, dringen durch den Flamenco hindurch bis in unsere Tage. Vermutlich liegt hier auch der letzte Grund für den überwältigenden Erfolg des Flamenco in einer von Verlustgefühlen und der Suche nach den verlorenen Wurzeln gekennzeichneten Gesellschaft. Musik und Magie sind auf tiefe und urtümliche Weise miteinander verknüpft. Musik ist Magie, Musik löst magische Wirkungen aus (Trance). Zauberei und religiöse Kulte bedienen sich seit Urzeiten musikalischer Elemente, um diese Wirkungen zu nutzen. Bezeichnend ist im Spanischen (und in anderen romanischen Sprachen) die gemeinsame Wortwurzel von singen und verzaubern; cantar und encantar! Flamenco ist (oder war) Musik par excellence in einem sehr archaischen Sinn. Der Autor scheut sich nicht, zu sagen, daß überall dort, wo in einer Flamenco-Aufführung dieses archaische Element noch spürbar ist, der Flamenco (Substantiv) noch flamenco (adjektiv) ist, und wo es nicht spürbar ist, da sollte eine andere Bezeichnung gewählt werden. Die eigene Magie dieses Phänomens Flamenco bekam ja einen Namen: duende. Ein Archaismus?

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